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Wildtierexperte Schlüter: „Sicherheit des Menschen muss im Vordergrund stehen“

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Lindberg. Nach dem zweiten Abschuss eines aus dem Tier-Freigelände im Nationalparkzentrum Falkenstein entlaufenen Wolfs bleibt die Debatte im Netz weiterhin unsachlich-emotionsgeladen. Auf der einen Seite befindet sich die große Mehrzahl der Abschuss-Gegner, die wenig bis überhaupt kein Verständnis für die aus Sicht der Nationalparkverwaltung zum Schutze des Menschen notwendige Maßnahme zeigt. Auf der anderen Seite die Minderheit der Abschuss-Tolerierer, die die Meinung vertritt, dass entkommene Gehege-Wölfe, die an den Menschen gewöhnt sind, ein nicht einschätzbares Risiko für diesen darstellen. Die Minderheit wirft der Mehrheit vor, den Nationalpark mit Wildnis-Romantik zu verwechseln. Etwas mehr Sachlichkeit in der Wolfsdebatte wünscht sich auch Wildtierexperte Jens Schlüter aus Zwiesel. Im folgenden Kommentar erläutert der studierte Forstwirtschaftler und Naturschützer seine Sicht der Dinge.

„Die Leute kapieren nicht, dass der Wolf – auch wenn er im Gehege aufgewachsen ist – kein Kuscheltier ist.“ Die Meinung eines Facebook-Kommentators, mit der dieser in der aktuellen, teils höchst-emotional geführten Wolfsdebatte zur Minderheit gehört. Die Mehrheit zeigt wenig bis gar kein Verständnis für die von der Nationalparkverwaltung beschlossenen Abschuss-Maßnahmen. Fotos: Onlinemagazin da Hog’n

Lange Zeit existierten Wölfe bei uns nur in der Erinnerung oder in Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Länder, in denen Wölfe lebten, stellte man sich wildromantisch und voller Abenteuer vor – wie etwa Alaska oder Kanada. Und als sich nach der Jahrtausendwende ein erstes freilebendes Rudel im Osten Deutschlands etablieren konnte, war das immer noch weit genug weg…

Entscheidend ist die Akzeptanz, die wir ihnen entgegenbringen

Mittlerweile breitet sich der Wolf in Deutschland immer weiter aus – und hat ausgerechnet in diesem Frühling im Nationalpark Bayerischer Wald das erste Rudel seit seiner Ausrottung vor mehr als 150 Jahren gegründet. Durch genetische Analysen ihrer Hinterlassenschaften konnte sogar herausgefunden werden, dass es sich bei dem Wolfspärchen im Nationalpark um ein Männchen aus Italien und um ein Weibchen aus Polen handelt. Dies zeigt zum einen, dass der Bayerwald offensichtlich optimale Voraussetzungen zur Pflege internationaler Beziehungen bietet. Zum anderen, wie hochmobil und ausbreitungsstark Wölfe sind – wenn man sie denn lässt. Denn das ist der einzige und wichtigste Grund, der über das Überleben der Wölfe in unseren Breitengraden entscheidet: Unsere Akzeptanz, die wir ihnen entgegenbringen.

Wildtier-Experte Jens Schlüter, der sich kommunalpolitisch für die Grünen im Zwieseler Stadtrat engagiert und sich vor wenigen Wochen um den Posten des Regener Landrats bewarb.

Klar: Wölfe haben eine hohe Vermehrungsrate, die bei rund 30 Prozent im Jahr liegt. Sie sind unglaublich anpassungsfähig und können so alle Lebensräume vom Hochgebirge bis zur Küste besiedeln. Doch das letzte Wort hat hier der Mensch, der den Wolf in Deutschland schon einmal ausgerottet hatte. Damals waren sicher noch andere Nöte und Ängste vorherrschend – der Wolf wurde wohl auch von vielen als existenzielle Bedrohung wahr genommen. Sein Verschwinden wurde trotzdem damals schon von einigen zumindest bedauert.

Inzwischen haben wir ein anderes Verhältnis zum Wolf entwickelt, das ihm erfreulicherweise eine Rückkehr ermöglichte. Und obwohl er wie nur wenig andere seiner Artgenossen polarisiert – die einen sehen in ihm das Symbol für das Gute der Wildnis schlechthin, die anderen beginnen ihn schon wieder als Vielfrass zu verteufeln, vor dem kein Nutztier sicher ist -, hat er auch bei uns im Bayerwald eine zweite Chance bekommen. Und diese nutzt er auch. Mehr als Spuren im Schnee oder Bilder auf Wildtierkameras haben wir zumindest auf bayerischer Seite bisher nicht von ihm mitbekommen. Und das ist auch gut so, denn das beweist, dass ein Zusammenleben zwischen Wolf und Mensch auch in unserer Region grundsätzlich möglich ist.

Und da beginnen die Probleme des Zusammenlebens…

Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier wird aber gerade durch den Ausbruch von sechs Gehegewölfen auf eine harte Probe gestellt. Denn diese verhalten sich offenbar grundlegend anders als ihre wilden Artgenossen im Nationalparkgebiet. Dabei zeigen sie auch nur ein normales Verhalten: Zurzeit machen sie nichts anderes als ihren neuen Lebensraum zu erkunden. Neugierig wie sie nun mal sind, tun sie dies ausgiebig – und loten ihre Grenzen aus. Da sie wenig menschenscheu sind, lassen sie sich (noch) von vielen Menschen beobachten.

„Ein Tier-Freigelände heißt ja nicht so, weil dort Tiere in Freiheit leben, sondern weil sich das Gelände im Freien befindet“ – Kommentar eines Hog’n-Lesers zur aktuellen Wolfsdebatte.

Auch das ist für sie ganz normal, sind sie doch im Gehege am Haus zur Wildnis aufgewachsen und hatten täglich Kontakt mit Massen von Menschen, die sie fotografiert, angesprochen und vielleicht ab und zu auch (verbotenerweise) gefüttert haben. Die Wölfe haben dort wohl jede menschliche Regung erlebt, die es gibt: staunende Besucher, lachende oder weinende Kinder, lärmende Schulklassen. Und das Schöne an den Gehegewölfen war stets, dass sie augenscheinlich alles stoisch über sich ergehen haben lassen, sie ab und an gelangweilt den Kopf hoben, wenn die Geräuschkulisse sie aus dem Schlaf geweckt hat oder sie von einem kleinen Besucher-Hund angebellt wurden. Aus der Ruhe hat sie das nicht gebracht – sie kannten das alles ja und wussten, dass es für sie ungefährlich, höchstens ein bisschen lästig ist, wenn sie eigentlich in Ruhe fressen wollen.

Nun sind diese Menschen nicht mehr durch einen hohen Zaun von den Wölfen getrennt, letztere können direkt an ihnen vorbei laufen oder sie sogar beschnuppern. Und da beginnen die Probleme des Zusammenlebens – zumindest für uns Menschen. Denn derartige Begegnungen hinterlassen mindestens ein mulmiges Gefühl, wenn nicht mehr. Endgültig schwierig, wenn nicht unmöglich, gestaltet sich ein Miteinander, wenn ein Wolf beginnt, Spaziergänger im Wald anzuknurren – insbesondere dann, wenn Kinder mit dabei sind. Dies ist in zwei Fällen mit einem der entlaufenen Gehegewölfe passiert. Dabei hat sich nichts Schlimmeres zugetragen, doch diese Zwischenfälle lassen auf Sicht die Akzeptanz aller Wölfe dramatisch sinken, bis (im schlechtesten Fall) die Gesellschaft den Abschuss aller Wölfe – auch der freilebenden – fordert.

Dann ist es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit…

Leider kann niemand garantieren, dass die entlaufenen Wölfe in Zukunft in den Tiefen des Nationalparks verschwinden. Wahrscheinlicher ist eher, dass sie die Nähe von Menschen und Hunden suchen werden, da sie, wie gesagt, aufgrund ihrer Gehegezeit ja nichts anderes kennen – und dies als als völlig normal empfinden. Dann ist es vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis irgendjemand die Wölfe mit einer Wurstsemmel füttert oder vor ihnen davon läuft, was diese womöglich als Aufforderung zum Spiel oder sportliche Herausforderung begreifen. Schwierig würde sich dann auch der Umgang mit unseren Haus-Hunden gestalten, die uns auf unseren Spaziergängen begleiten: Diese könnten (je nach Situation) als Spiel- oder Paarungspartner oder gar als „kleiner Happen“ verstanden werden. All das würde zu Situationen führen, die völlig außerhalb unserer Kontrolle liegen – zu einem Zustand also, mit dem wir uns bekanntlich gar nicht anfreunden können.

Warum erschießt man den Wolf dann gleich, anstatt es weiter zu versuchen ihm näher zu kommen?“ – Kommentar eines Hog’n-Lesers zur Debatte um die beiden bisher getöteten Wölfe.

Daher ist es richtig, dass die Nationalparkverwaltung derzeit mit sehr hohem Personalaufwand alles Menschenmögliche versucht, die Wölfe wieder einzufangen. Es werden Lebendfallen aufgestellt, die Wölfe sollen mit viel Fleisch wieder ins Gehege zurückgelockt oder mit Narkosegewehren betäubt werden. Letzteres ist jedoch deutlich schwieriger als man denkt, da die schlauen Wölfe natürlich das Verhalten der Menschen lesen können und genau wissen, was gerade auf sie zukommt. Weniger als 30 Meter lassen sie die Schützen leider nicht an sich heran – falls ein Schuss gelingt, können die Wölfe dem eher langsam anfliegenden Narkosepfeil leicht ausweichen. Und je mehr Zeit verstreicht, desto schwieriger wird es sie doch noch lebend einzufangen. Am Ende bleibt dann nur der Abschuss, also das Töten des Wolfes, übrig – so bitter das für alle Mitarbeiter und viele Wolfsfreunde auch erscheinen mag. Unterm Strich eine unausweichliche Maßnahme, wenn man auch weiterhin die Akzeptanz für die wild lebenden Wölfe im Nationalpark und Bayern erhalten will.

…dass die Sicherheit des Menschen im Vordergrund steht

Jeder Zwischenfall und jede kritische Situation zwischen Mensch und Wolf könnte „tödlich“ sein für die Akzeptanz der wild lebenden Wölfe. Denn es dürfte schwer genug sein, das Zusammenleben zwischen einer wachsenden Wolfspopulation und unseren Ansprüchen zu regeln. Um das erfolgreich zu meistern, sind meiner Meinung nach jedoch eindeutige Grenzen für den Wolf nötig – wobei ganz klar sein muss, dass die Sicherheit des Menschen im Vordergrund steht. Nichts anderes macht die Nationalparkverwaltung, die hier ihrer Verantwortung voll gerecht wird, um für ein Zusammenleben zwischen Mensch und Wolf auch in Zukunft zu sorgen. Der- oder diejenigen, die das Tor zum Wolfsgehege geöffnet haben, haben nicht nur eine Straftat, sondern vielmehr eine riesige Dummheit begangen, die letztlich vor allem allen Wölfen schadet.

Kommentar: Jens Schlüter

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